Tief im Osten

Moskau-Tagebuch, Teil 2

Orthodoxe Kirche Zelenograd Zu nachtschlafender Zeit wandern wir durch winterliche Parkanlagen, über zugefrorene Seen, bis sich gegenüber dem ungeliebten viel größeren Neubau das Holzhaus der Kirche präsentiert. Der Gottesdienst ist bereits im Gange, als wir ziemlich verfroren die warme und gut besuchte Stube betreten. Es gibt keine Sitzbänke. Dicht gedrängt um den Prediger wird unter gelegentlichem Mitgesang gestanden oder anderen Verrichtungen nachgegangen, wie Kerzen entzünden, am Shop Reliquien kaufen oder hostienartiges Brot in Empfang nehmen. Zwischendurch setzt immer wieder mit elektronischer Unterstützung ein Minichor ein. Bekreuzigungen und Luftholen wechseln sich so manches Mal einander ab.
Der Rückweg gerät zu einer Ortsbesichtigung von Zelenograd unter beredter und sichtlich stolzer Führung seitens Valerij.
Fußball im Schnee Zelenograd wurde in den fünfziger Jahren auf den Resten einiger im 2.Weltkrieg zerstörter Dörfer als Technologiezentrum, ein russisches "Silicon Valley", aus dem Boden gestampft. Demzufolge gibt es keine älteren Gebäude und die Bebauung entspricht somit vollständig den Idealen des realen Sozialismus. Mit etwa 300.000 Einwohnern ist so ein veritabler Vorort entstanden, der trotz seiner 40 Kilometer Entfernung zum Zentrum und ohne Metro-Anbindung immer noch offiziell zum Moskauer Stadtgebiet gehört. Es ist Sonntag und früh, nur wenige Menschen sind auf den Straßen. Wir passieren das Kulturhaus und steuern über eine größere Freifläche auf das Rathaus zu.
Ljoscha, Mischa und die Schneemänner im Arbat Als im offenen vorgelagerten Atrium des Rathauses Valerij ein Foto von mir und Lera macht, kommt sofort ein Wachmann heraus und schickt uns fort - wir dürfen hier keine Fotos machen!
Tags zuvor hatte mich Lera noch mit der Äußerung überrascht, Russland gehöre nicht richtig zu Europa. Es sei halb europäisch und halb asiatisch. Eine Mischung, vielleicht auch keins von beidem wirklich. Mit ernster Miene erklärt sie nun den Hintergrund ihrer Meinung: Genau das ist es. Es sind die Schatten der Vergangenheit, die immer noch sehr lebendig sind. Diese ewige Angst vieler Russen vor allem und jedem. Das ist noch die große Abweichung zu Europa!
Lera bringt die berühmte Metro näher Kurz vor Erreichen des Frühstücks in der Wohnung bezahlen wir Leras offene Internetrechung, die sich gemessen am durchschnittlichen Prokopfeinkommen fast astronomisch ausnimmt und beobachten die örtlichen Kicker beim Warmmachen auf solider Schneedecke. Gestärkt treffen wir Ira und machen uns auf den langen Weg in die Stadt, wo wir Jens einsammeln und Ljosha (bei ihm hatte ich ursprünglich nächtigen sollen / er betreibt eine eigene Homepage!) und Misha kennenlernen. Wir besichtigen das Majakowski-Museum. Sehr originell gestaltet und jenseits der Touristenroute beeindruckt es durch seine liebevolle Gestaltung. Natürlich muss ich fotografieren! Doch es gibt Hindernisse in Form unzähligen Wachpersonals, meist älterere Damen, deren scheinbare Lethargie nicht mit mangelnder Comics im Majakowski-Museum Aufmerksamkeit einher geht. Eine bedeutet mir, dass für Fotos bezahlt werden muss. Also gehe ich an die obligatorische Garderobe zurück und bezahle wie verlangt 30 Rubel (knapp 1 Euro). Auf der nächsten Etage geht das Problem jedoch erneut los. Auf den Kassenbon hin werden mir freundlicherweise zwei Bilder gestattet. Als wir kurz vor Ende der Besichtigung noch eines mit Ljosha und Misha vor einer Zeitung stellen, kommt Aufmerksamkeit wieder ins Spiel. Minutenlang laut zeternd zerrt sie uns erneut zur Garderobe und verlangt die Entrichtung eines weiteren Obolus, fortwährend mit unseren Begleitern diskutierend. Es stellt sich heraus, dass der Preis für jedes einzelne Bild wohl 60 Rubel betragen soll. Das ältere Pärchen an der Garderobe hatte es zu gut mit mir gemeint. Sobald der Schießhund sich getrollt hat, bedeuten sie uns lachend, dass wir hier unten bei ihnen gerne so viel fotografieren können, wie wir wollen, was wir dann auch tun. Ira lässt sich sogar zu Posen hinreißen ..
Ira lässt sich zu Posen hinreißen Inwischen hungrig zieht es uns in das Arbat-Viertel, ein recht beschauliches Studenteneckchen, welches jedoch bereits auf bestem Wege zu seiner touristischen und marktwirtschaftlichen Entfaltung ist. Das Restaurant Mu-Mu bietet genügend Auswahl und so halten wir es lange genug aus bis Leras Wiederkehr, die sich zwischenzeitlich zu Privatangelegenheiten verabschieden musste. Wir wechseln für ein paar Bier nochmal das Lokal und kriegen dort staunend die Bayern-Pleite in Bielefeld live zu sehen! Frohgemut kehrt ein jeder alsbald in heimische Gefilde zurück. Frohgemut? Nun ja, für meinereiner geriet ob drall gefüllter Mittelerde die langwierige Heimreise zur fundamentalen Tortur und die Rettung erfolgte buchstäblich letztsekündlich.

Majakowski-Museum - Fragmente Wieder war vorzeitiges Aufstehen angesagt, da ich Lera zwecks meines Umzuges ins Hotel auf ihrem Weg zur Arbeit in die Stadt begleiten wollte. Eingedenk meines notorischen Widerwillens mit Gepäck längere Wege zu gehen hatte ich die Spendierung eines Taxis Türzutür nachdrücklich angeboten, doch Leras Widerwillen gegen Taxen und deren Preise war zu meinem Leidwesen äußerst ausgeprägt. Knurrend schleppte ich also zur Bushaltestelle, wo Lera schnell auch die üblichen Minibusse als zu voll bzw. zu teuer erachtete und so stoppte sie zusammen mit einer unbekannten Frau einen Privatwagen, der uns bis zur ersten Metrohaltestelle bringen sollte! Sparsam, sparsam. Nach endlosen Staus angekommen weigerte sich Lera weiterhin beharrlich ein Taxi zu nehmen. Immerhin fragte sie eines nach dem Preis, aber 500 Rubel waren ihr auch für mich immer noch Majakowski-Besucher im Überblick zu teuer und sie selbst würde auf jeden Fall mit der Metro fahren. Ohne Umschweife stoppte sie also erneut ein Privatauto, verhandelte einen Preis von 200 Rubel bis direkt zum Hotel Rossija und schärfte mir ein keinesfalls mehr zu bezahlen und mich zu melden, wenn ich angekommen wäre. So geschah es! Angekommen! Das Hotel Rossija. Direkt am "Roten Platz" an der Ecke der Piesel-Kathedrale Basilius sowie an der Moskwa gelegen ist fürwahr ein gewaltiger Bunker! Mit etwa 5.000 Übernachtungsplätzen käme auch die Verwaltungsgemeinschaft Zörbig darin unter! Sicherlich ist diese kleine Stadt für sich äußerlich ganz sicher kein Augenschmaus und auch wenn mich normalerweise Massenbetriebe eindeutig eher abschrecken, so kann ich diesem Koloss die Vermittlung einer gewissen Faszination nicht verweigern!
Piesel-Kathedrale Basilius Jens hatte mich bereits bezüglich seines Eincheckens vorgewarnt - 15 Minuten habe er benötigt um von der Rezeption aus sein Zimmer zu finden! Der Rezeption? Es gibt natürlich derer mehrere! Eine Veabredung an der Rezeption erfordert demnach auch immer die Beifügung weiterer Identifizierungsmerkmale. Wir haben uns angewöhnt in Himmelsrichtungen zu sprechen, denn der monströse Quader teilt sich entsprechend auf. Wer im Westblock mit Außenfenster wohnt, schaut auf den Kreml. Wer Fenster zum Innenhof hat, ist ziemlich angeschmiert, denn da gibt es rundum nur Rossija, Rossija und Rossija zu sehen und das von seiner häßlichsten Seite. Wir haben Glück - wir wohnen im Südblock mit Außenfenstern im 10. (Jens) bzw. 12. (meinereiner) Stock, was nicht nur einen herrlichen Blick auf den unmittelbar davor liegenden Fluss gestattet, sondern auch am rechten äußeren Ende auf die Kreml-Peripherie sowie linkerhand auf eines jener Hotel Rossija, Innenhof sieben berühmten Monumente aus der Stalin-Ära! Etwa baugleich im sogenannten Zuckerbäckerstil über die Stadt verteilt sind sie höchst beeindruckende Zeugen einer vergangenen Epoche. Die berühmte Lomonossow-Universität auf den Sperlingsbergen ist ebenso in einem dieser Türme untergebracht wie auch das Aussenministerium westlich des Kreml. Zu dem Bau neben dem Rossija habe ich leider bislang noch keine näheren Angaben hinsichtlich seiner Verwendung gefunden. Auf verblüffende Weise symbolisieren sie für mich eine ambivalente Nähe zu den klassischen Zentren der Vereinigten Staaten von Amerika. Wandert der Blick wieder zurück und über den Fluss, so erstaunen die massiven Wasserdampfemissionen aus einer der Industrieanlagen auf der künstlich geschaffenen Flussinsel. Aus westlichen Regionen ist solcherlei in unmittelbarer Nachbarschaft zum Zentrum der Macht mir gänzlich unbekannt.

Hotel Rossija: Endlosflure Erste Streifzüge durch das Rossija-Hotel offenbaren die wahren Ausmasse des Giganten. Unzählige Cafes, u.a. stets an jeder Ecke jedes Stockwerks platziert, Bars Restaurants, Nachtclubs, vier Rezeptionen, Shops und immer wieder .. endlose Flure! Wir haben keine Idee wie viele Kilometer wir hier schon in diesen Fluren hinter uns haben, doch den Wolf laufen wir uns ganz sicher. Recht hilfreich sind dagegen die ausgezeichnet funktionierenden Liftsysteme, die einerseits natürlich wiederum zahlreich sind und andererseits auch äußerst schnell. 12 Stockwerke werden in nicht mal 5 Sekunden gemeistert! Eine Parallele übrigens zu einer weiteren logistischen Errungenschaft des realen Sozialsmus, der Moskauer Metro. Nicht nur sind die Stationen teilweise und vor allem im Zentrum wahre Kathedralen (Nein Piesel, nicht die Basilius), sondern der konsequente 2-3-Minutentakt sorgt auch für eine extreme Effizienz bei der Beförderung von circa 7 Millionen (!) Fahrgästen täglich! Das bedingt allerdings auch eine schnelle Abfertigung an den Stationen - der Aufenthalt ist stets kurz und so kann es bei dem Gedränge im Berufsverkehr durchaus passieren, dass man den Einstieg nicht mehr schafft, die Türen werden rabiat geschlossen. Doch das stört kaum, denn die nächste Bahn kommt ja sogleich. Wer sich mit der Ausschilderung der Ausgänge und Umsteigen nicht überfordern will, tut gut daran mit dem kyrillischen Alphabet vertraut zu sein. Ansonsten kann es mit dem Begreifen einige Zeit dauern ..
Blick vom Rossija über die Moskwa aufs Außenministerium Unbegreiflich ist für westlich geprägte Verständnisse ohnehin so manches in Moskau. Wie lautet doch ein geflügelter Spruch aus Sowjetzeiten: Amerika ist das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, Russland dagegen das Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten! Da ist mehr als nur etwas Wahres dran. Ein banales Beispiel dafür aus dem Alltäglichen mag mein chronischer Energiemangel sein. Denn im Gegensatz zu Jens erhielt ich ein Zimmer ohne kompatible Steckdose. Doch in dieser kleinen Stadt des Hotels Rossija, wo es ansonsten einfach alles gibt, gibt es nirgendwo einen Adapter. Und auch in den umgebenden Metrotunneln, die alle vollgestopft sind mit kleinen Läden, die einfach alles verkaufen, gibt es .. keine Adapter. So leiden nach immerhin schon fünf Tagen im Hotel Handy und Kamera weiterhin unter chronischer Saftlosigkeit.
Unmöglich ist weniger die sprichwörtliche Verdrießtheit der Moskowiter. Der Grieskram feiert auf so vielen Gesichtern fröhliche Urständ. Doch so manches Mal gelingt es denn doch hier und da ein Lächeln zu provozieren. Ganz wunderbar hat der in Berlin lebende Moskauer Schriftsteller Wladimir Kaminer (u.a. "Russendisko") in der Moskau-Ausgabe des Merian seine Landsleute auszugsweise beschrieben: "Wir können mitten im Winter in einen Fluss springen, um einen herrenlosen Hund an Land zu ziehen, ihn anschließend zu füttern und zu verwöhnen, weil die Liebe die Welt errettet. Und am nächsten Tag ihn wieder in den Fluss werfen, weil das ganze sowieso keinen Sinn hat."
Wasserdampfemissionen Nun, Wechselhaftigkeit gepaart mit Improvisationskunst gehören ganz sicher zu den Bestandteilen hiesiger Mentalität, die manches Mal scheinbar so lebenserschwerend wirkt und manch anderes Mal eine geradezu melancholische Faszination ausübt. Fast surreal auch, was uns bei nächtlichen Wanderungen durch die einsamen Straßen des teilweise pittoresken Viertels nördlich des Kremls immer wieder begegnete - Reiter! Etliche Leute führen gemächlich ihre Pferde nächtens durch die verschneite City spazieren! Symbol für die vielen Ambivalenzen einer Metropole die ihresgleichen nicht braucht und daher auch kaum suchen wird ..

Mikly

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