Schachtouristen ...

Lars und Musti ... war das Wort, das Kasparov einmal zum Leidwesen einiger seiner Kollegen in die öffentliche Debatte warf. Musti, Lars und ich hätten uns vermutlich nicht beleidigt fühlen dürfen. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass uns der Bär bisher gar nicht registriert hat. Die Computer-WM in Maastricht - nicht zuletzt dank Lars' Vorbelastung - und die Dortmunder Schachtage standen an. Da andere die technische (Maastricht) bzw. die schachliche (Dortmund) Berichterstattung weit besser beherrschen, sollen Schilderungen der Abläufe, Stimmen und persönliche Eindrücke im Mittelpunkt stehen.
Mit Minimal-, nämlich bloßen Namenskenntnissen einiger Programme und Programmierer ausgestattet, war Maastricht für mich absolutes Neuland. Aber wir hatten ja Lars, der erst vor Wochenfrist für c't das Online-Match Fritz-Shredder mitorganisierte und deshalb ganz gut mit der Szene vertraut ist.
Der Dienstag war eigentlich optimal zum Zugucken - hier lief ein Großteil des Rahmenprogramms ab. Gespielt wurde im Festsaal der Uni, neben herkömmlichem Schach gab's auch Chip-Duelle im Backgammon, Bridge, chinesischen Schach etc. Wir kamen gerade rechtzeitig zum Blitzturnier - eine kultige Veranstaltung und keineswegs emotionslos. Schließlich spielen Schelligkeit und Geschicklichkeit der Programmierer/Bediener eine nicht unwesentliche Rolle. Das Ganze läuft ungefähr so ab:
Nachdem die Paarungen (Schweizer System) verlesen sind, guckt man sich kurz an (Kommst du zu mir?), und die Hälfte der Rechner wird durch den Raum getragen. Das nach jeder Runde, denn die Programme spielen natürlich auf separaten Computern. Die Programmierer/Bediener haben dann herkömmliche Bretter und Uhren vor sich sowie sieben Minuten Zeit. Es gilt am Brett den Zug des eigenen Programms auszuführen und am Rechner den des gegnerischen. In hochgradiger Zeitnot keine leichte Übung! Bindend ist allein die analoge Schachuhr. Am Programm kann man einstellen, was man will. Die meisten wählten drei Minuten.
Vorjahres-Blitzweltmeister Goliath konnte sich vier leisten. Hier war der Bediener flink und brutal, - drei Uhren gingen in die Brüche - was das ansonsten mittelmäßige Programm im Blitz zur Macht werden lässt. Diesmal wurde er allerdings von Shredder um einen halben Punkt distanziert. Nicht zu vergessen, dass Menschen am Brett sitzen und den Gegner auch schon mal gnadenlos in ungleichfarbigen Läuferendspielen ausdrücken, so geschehen bei Parsos - Quest (1:0, Quest ist die gängige Bezeichnung für experimentelle Turnierversionen des handelsüblichen Programms Fritz). Prinzipiell herrscht aber eine familiäre Atmosphäre. Abends muss man sich nicht auf den nächsten Gegner vorbereiten, und nahezu der vollständige Tross zieht zum gemeinsamen Essen los. Während Journalisten wie Eric van Reem dabei noch ein gewohntes Bild abgeben, sind Zuschauer eher selten. "Where do you come from?", wurde ich gefragt und gab prompt die falsche Antwort: "From Germany." "No, no - which program???" Im regulären Turnier geht es ähnlich wie beim Blitz zu, allerdings mit weniger Bedienstress. Die Programmierer tauschen (auch mal am Brett) Varianten und die Berechnungen ihrer Programme aus. Man stört niemanden in der Konzentration, kann sich munter reinhängen oder sein Frühstück ausbreiten.
Weitere Profi-Programme vor Ort waren - neben Quest und Shredder - Junior (Amir Ban/Shay Bushinsky) und das Forschungsprojekt Brutus (Chrilly Donninger). Neben den Duellen untereinander sind oft die halben Punkte entscheidend, die man gegen die spielstarken Amateure liegen lässt. Shredder lag vor und während unserer Anwesenheit vorn, remisierte später gegen Angstgegner Diep, Junior schloss auf und gewann den fälligen Stichkampf. Schade für Stefan Meyer-Kahlen, der seine Titelsammlung natürlich gern erweitert hätte.
Das Junior-Team war übrigens mit Großmeister Boris Alterman (zuständig für das Eröffnungs-buch) angereist. Er stellte sich für ein experimentelles Uhrensimultan gegen die Programme zur Verfügung. Elf Programme traten an. Von den Profis verzichteten Junior (klar, eigenes Team) und Quest/Fritz (darf vertraglich vor dem Kramnik-Match gegen keinen GM spielen!). Dennoch war die Sache hart genug, da man ja heutzutage ohnehin gegen die Kisten Probleme hat. Alterman be-kam 90 Minuten an jedem Brett - die Programme 30. Letzteres war als Ausgleich gedacht (Alterman musste keine Reihenfolge einhalten und konnte die Programme auch zum sofortigen Ziehen zwingen), wurde aber eher dem Simultanspieler zum Verhängnis. Bei der Schnellschachbedenkzeit und Permanent Brain gab es kaum Rechenzeit, und Altermans Uhren liefen praktisch überall und ständig. (Beim Uhrensimultan wird sofort gezogen, nicht, wie beim herkömmlichen Simultan erst, wenn der Meister am Brett ist) So war trotz einiger guter Stellungen die Zeitnot am Ende viel zu groß. Stress auch für Shay Bushinsky: die Notationen wurden permanent per Hand gesammelt und vervollständigt, um sie über Kasparovchess.com live zu übertragen. Die Seite ist in Israel gehostet.
Vor dem Match gab es zuversichtliche Stimmen. Alterman selbst schätzte seine Chancen auf ca. 60% und hoffte wohl auf Schwächen der zahlreichen Amateur-Programme und seine profunden Kenntnisse im Computerschach (Es gab tatsächlich an mehreren Brettern 1.f4 usw.). Lars verwettete gegen Mathias Feist drei Gerstensäfte mit der Maßgabe mind. 40% für Alterman. Beide lagen daneben, am Ende wurden es bei einem Sieg 3/11. Gegen die Etablierten gab es zumeist Remisen, aber gerade die "Kleinen" schlugen zu. Mensch gegen Programme im Uhren(!)simultan (Musti: "fast schon überheblich") erscheint heutzutage als Mission Impossible.
Stefan Kindermann Dortmund bildete einen interessanten Kontrast. Wie zu erwarten war, durften wir nicht einfach drauf los und in die Partien quatschen. Stattdessen gab's im Goldsaal der Westfalenhalle gedämpftes Licht und Kopfhörer-Kommentare von Helmut Pfleger und Klaus Bischoff, zwischenzeitlich ergänzt um die Stimmen von Uwe Bönsch, Carsten Hensel, Stefan Kindermann und Hartmut Metz. Helmut hatte nur am Anfang Zeit, in die alten Geschichten abzugleiten. In der heißen Phase waren vier Partien jederzeit genügend Beschäftigung für die Kommentatoren. Insbesondere Klaus Bischoff fiel dabei neben seinem Dialekt/seiner Dialektik vor allem durch schachliche Kompetenz auf. Die Kommentatoren nutzten übrigens keinerlei Programmunterstützung, weil man dabei "zwar manchmal daneben liegt, das aber ehrlicher ist" (Klaus). Stefan Kindermann bot jeweils nach zwei Stunden Spieldauer eine Präsentation am Chessgate-Stand an. Er ging auf die Eröffnungen und strategischen Pläne ein, diskutierte Varianten mit dem Publikum. Auch zweitrangige Vorschläge wurden höflich beantwortet. Eine gelungene Einstimmung auf den weiteren Partieverlauf. Bei Chessgate gibt es am Folgetag immer die kommentierten Partien.
Soviel zum Rahmen. Was die Konstellation betrifft, versprachen Modus und Tabellenstände viel Spannung und konnten das auch halten. Leko-Bareev ging über 6:58 h und war zu keiner Zeit langweilig! Die Atmosphäre ist halt noch eine andere als bei Internet-Übertragungen: Körpersprache und Boris Gelfands Iso-Star kommen mindestens hinzu. Über 60 Züge dauerte auch die Partie Shirov-Lutz, wo viele den deutschen Vertreter schon über den Berg wähnten, Shirovs nie nachlassender Druck aber doch noch zum Erfolg führte. Was die Kommentatoren vor Ort nicht wussten: Shirov wird ohnehin das Turnier gewinnen. Schließlich hat Lars gegen Musti (Topalov) auf ihn gesetzt, als der Wahlspanier noch bei 50% stand. Und Lars setzte bereits gegen Musti in Groningen auf Karpov (vs. Anand) und in London auf Kramnik (vs. Kasparov)... Auch eine weitere Partie der 5. Runde verlief äußerst spannend, bevor sie ein jähes Ende fand: Moro mit den geliebten schwarzen Steinen gegen Mickey Adams. Der Engländer kann nur reagieren, Gewinnpläne sind aber auch für Schwarz nicht ohne Risiko. Moro stochert zunächst ein wenig, hin und wieder zurück - kann ja nix passieren. Zeitkontrolle, aha der Plan funktioniert nicht, also wieder kurz zurück, draußen erfrischen und dann in Ruhe Anlauf nehmen. Während Moro hinter der Bühne verschwindet, guckt Mickey auffallend oft vom Brett auf's Formular und zurück, ruft schließlich den Schiedsrichter. Als der Russe wiederkommt, wartet eine böse Überraschung auf ihn. Ein eingeschaltetes Turmmanöver hat ihn die Stellungswiederholung übersehen lassen - Remis! Damit war der Kelch für den tragischen Helden aber noch lange nicht geleert. Am nächsten Tag warteten wieder die schwarzen Steine in einer must-win-Partie ...
In der sechsten Runde war die Nervosität überall spürbar. Schon beeindruckend, wie Shirov den armen Gelfand (der mit Schwarz gewinnen musste) mit "zynischen Zugwiederholungen" quälte und jederzeit die Kontrolle behielt. Auch Lekos Sieg war sicher keine schlechte Partie. In den Schatten gestellt wurden diese Ereignisse jedoch von Moros Drama gegen Bareev (siehe Partienteil).
Die Partienauswahl soll ebenfalls Stimmen wiedergeben sowie eine kleine Dosis Computerschach/-logik. Für die Demonstration von Rechentiefe gibt es sicherlich umfassendere Beispiele. Für eine ausführliche Kommentierung der Dortmund-Partien siehe Stefan Kindermann bei Chessgate.

c. r.

Boris Alterman Bareev-Morozevich

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