Tief im Osten

Moskau-Tagebuch, Teil 4

Geschäftige und berühmte Straße: Izmailowskaja Abgesehen von jeweils nur einer einzigen Doppelrunde, die mir eine Schweizer Doppelnull beschert, bleibt uns stets genügend Zeit um nach dem Vormittagsstress zwischen Müßiggang und Streifzügen zu wählen. Meistens wird es eine Mischung daraus, wobei die Muße an der Bar verweilt und der innere Schweinehund sich über den roten Platz hinweg windet. Einmal teilen sich die Burger mit uns eine 3-stündige Minibustour mit einer deutschsprachigen Erzählerin. So wiederholen sich die Geschichten aus den Reiseführern, über die erste Erwähnung Moskaus im Jahre 1147, als Fürst Dolgorukij Gefallen an dem kleinen Hügel oberhalb der Moskwa fand, über den roten Platz, der ursprünglich Marktplatz war, wovon das berühmte Kaufhaus Gum heute kurios Wedding Zeugnis ablegt, über die Erbauung der Basilius-Kathedrale im 16.Jahrhundert unter Iwan dem Schrecklichen, die aus neun einzelnen Kirchen besteht, jede davon als Symbol für einen militärischen Sieg errichtet, wovon der über die Tataren in Kasan der wichtigste war und entsprechend im höchsten Turm gipfelt. Wir lernen auch die Fahne über dem Regierungssitz im Kreml zu deuten, welche die Anwesenheit des Präsidenten signalisiert und sind dabei von zahlreichen Hochzeitsgesellschaften umgeben, bevor wir den Zentrumskern verlassen.
City lights Mächtig erhebt sich alsbald die größte Kirche der Stadt, die Christi-Erlöser-Kirche in den grauen Winterhimmel. Stilistisch sieht man ihr die gut 100-jährige Geschichte leicht an, zumal Kirchen dieser Größe und mit diesem Aufwand ja eigentlich immer aus vergangenen Jahrhunderten stammen. Doch wie schon am Beispiel der Dresdner Frauenkirche erstehen Monumente dieser Art zuweilen auch noch zu Zeiten von Wireless Internet, Joystick, Marssonden, Klonen und Gen-Tomaten. Der Fall der 1883 erstmals erschaffenen Christi-Erlöser-Kirche demonstriert mögliche Abhängigkeiten von Willkür über die eigentliche Existenzgewinnung hinaus selbst mächtiger Kolosse. Denn 1931 ließ Stalin sie einfach sprengen, um an ihre Stelle, nahe des Moskwa-Ufers, ein Christi-Erlöser-Kirche gewaltiges Lenin-Denkmal zu setzen, in dessen Kopfe Besucher in Restaurants einen Blick über die Stadt erhalten sollten. Derweil fanden die Trümmer andere Verwendung, wie z.B. für die "Paläste des Volkes", die Metrostationen, deren Sitzbänke teilweise aus dem kirchlichen Marmor gefertigt wurden. Doch der heraufziehende Krieg ließ das eigentliche Projekt ruhen, nach dem Krieg gab es ganz andere Sorgen und nach dem Tod Stalins schwand auch das letzte Interesse an der Verwirklichung des einstigen Planes. So entwickelte sich aus der Baugrube ein riesiges Freibad(!), bis im Jahre 1997 die Kirche kurzerhand originalgetreu zur 850-Jahrfeier der Stadt wieder aufgebaut wurde!
Matrjoschkas Wieder draußen erlangt ein kleiner Blini-Stand meine volle Aufmerksamkeit und dank der nativen Sprachhilfe einer Moskauer "Readers Digest" - Redakteurin in der Warteschlange, gelingt es uns, welche mit Kaviar-Füllung zu ergattern, was uns die begehrlichen Blicke der am Minibus wartenden Burger einträgt. Doch unsere Fahrer sind sensibel genug, sofort den nächstbesten der unzähligen Moskauer Märkte anzusteuern, um den Darbenden leibliche Genüsse verfügbar zu stellen. Weiter geht es zum "Weißen Haus" und der Stelle wo einst Boris Jelzin auf dem Panzer stehend Glasnost und Perestroijka verteidigte. Jedes Mal, wenn vor dem geistigen Auge die wackeligen Momente historischer Entscheidungen bewusst werden, drängen sich leise Schauer in den Nacken und flüstern vom Strom des Ganzen, von der Verknüpfung der Welt in den Zellen des Die Schanze in den Sperlingsbergen Individuums. Wie gut, dass wir die Sperlingsberge entern um vor der Lomonossow-Universität und neben der Skisprungschanze das gesamte Areal der Moskwa-Schleife überblicken zu können, direkt vor der Nase das über 100.000 Zuschauer fassende zentrale Lenin-Stadion und in der diesigen Ferne Orientierung einmal mehr anhand der sieben Schwestern, der faszinierenden Hochhäuser im Zuckerbäckerstil - so lässt sich selbst noch der eher flache Kreml orten. Auf dem Rückweg, der uns unter anderem noch durch das kleinstädtisch anmutende Kaufleute- und Proletarierviertel Samoskworetsche auf der dem Kreml gegenüberliegenden Seite der Moskwa bringt, habe ich dann unsere Stadtführerin ganz für mich alleine, denn der Rest der Truppe ist weitgehend geräuscharm entschlummert ..

Roter Platz Es ist vollkommen klar dass in diesen wenigen Tagen nicht annähernd Zeit genug bleibt, auch nur das unbedingt Sehenswerteste der Schätze dieser Stadt zu erfassen. Vieles, wenn nicht fast alles, wird liegen, ungetan und ausgelassen bleiben. Einen Eindruck nur dürfen wir mitnehmen, eine Vorstellung, eine Idee was hier ist und wie es hier ist. Zumal die Jahreszeit kaum wirklich zu ausgedehnten Tagestouren einlädt. Februar in Moskau ist zwar keineswegs Februar in Sibirien, aber dennoch nehmen nicht nur wir gerne jede Gelegenheit wahr uns immer wieder aufzuwärmen, ein Café oder Kaufhaus, eine Passage oder einen Metrotunnel, eine Unterführung mit seiner Lebens- und Warenvielfalt aufzusuchen. Unsere einheimischen Freunde zelebrieren das gar der Perfektion entgegen, indem sie darauf beharren, einen guten Kilometer Moskwa Entfernung lieber mit zweimaligem Umsteigen per Metro als per pedes zu überbrücken! Nun, abgesehen von der Kälte, die an Tagen mit höherer Luftfeuchtigkeit auch meiner vorsorglich zuvor in Stockholm erworbenen Ausrüstung, bestehend aus einer Schapka sowie einer Jacke aus gekochpresster Wolle, zu schaffen machte indem sie unerbittlich jedes schwächere Feld besetzte, haben Spaziergänge auch darunter zu leiden, dass die Wege inklusive Treppen durchweg einen recht hohen Vereisungsgrad aufweisen, oft übertüncht von einer schmierigen Ex-Schneesoße, was maximale Aufmerksamkeit erfordert und kein hohes Tempo zulässt. Nachts werden zwar immer wahre Schneemassen auf Förderbänder geschaufelt, verladen und irgendwohin geschafft, doch was übrig bleibt hat schon manchen Hosenboden gleichzeitig gewärmt und gekühlt und ward gerne am Morgen augenfreundlich neu gepudert.
Die Schachausstellung gerät zur öden Pleite Doch Wikingergene und slawisches Blut lassen sich nicht so schnell abschrecken und so trieb uns die erste alleinige Unternehmung am 14. natürlich zu einer Schachausstellung, die, wie wir in der "Moskauer Deutsche Zeitung" gelesen hatten, bis zum 14. andauern sollte. Ab in die Metro, zweimal umgestiegen (wer lesen kann hat Vorteile) und dann durch heftiges Schneetreiben in die diplomatenverseuchte Leontjewskij. Schöne Pleite! Zwar war der Ausstellungsraum noch mit einer Person bestückt, doch ohne die bereits geräumten Objekte dennoch reichlich öde. Zudem durften wir uns später dafür ohrfeigen, die Nähe zum Hotel und damit den Überfluss der Metro nicht erkannt zu haben. So war uns zwar ungewollt, aber immerhin schlagartig die perfekte Anpassung an die örtlichen Wegebewältigungssitten gelungen!

Fortsetzung folgt ...

Mikly

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