Turm + Läufer vs. Turm
"Although this endgame has been studied for several hundred years, it is far from understood by most human chess players, including very strong ones. There are a number of reasons which suggest that further study of this endgame is worthwhile:
1) in practice it occurs relatively frequently amongst the elementary (no pawns) endings.
2) Grandmasters frequently make game—theoretic value—changing errors ..."2)
"Obwohl dieses Endspiel seit Jahrhunderten untersucht wird, sind die meisten Schachspieler weit davon entfernt, es zu verstehen. Auch sehr starke Spieler. Sich mit diesem Endspiel zu beschäftigen lohnt sich aus verschiedensten Gründen:
1) In der Praxis kommt es unter den einfachen Endspielen (ohne Bauern) relativ häufig vor.
2) Großmeister machen oft Fehler, die die theoretische Bewertung der Stellung verändern ..."2)
Es werden noch weitere Gründe aufgeführt. Anlass für den kleinen Exkurs hier ist die folgende Partie.
Natürlich steht mein Beitrag nicht im Verdacht, grundlegend Neues zu enthalten. Ich wollte die bekannten Quellen für eine kleine Zusammenfassung und Anwendung auf Partien aus unseren Breiten nutzen. Wer sich intensiv mit dem Endspiel befassen möchte, ist vermutlich mit dem Nunn 6) am besten bedient. Leider konnte ich dort nicht direkt und in anderen Standardwerken (Müller/Lamprecht ...) gar nicht nachschlagen. Allerdings war ich mir der fachkundigen Hilfe von Robert O. gewiss.
Günther, Christian - Schäfer, Reyk
KEM Sangerhausen (Sangerhausen), 30.10.2005
Runde 3 [Riker] [D85]
Zwei Fragen wurden anschließend diskutiert:
1.) Wie ist das Endspiel theoretisch und praktisch zu bewerten?
2.) Wieviele Züge hatte und hat die stärkere Seite zur Verfügung?
Zu 1.) war ich mir sicher, dass das Endspiel bis auf wenige Ausnahmen theoretisch remis sei. Ich wurde aber vor Ort verunsichert und fand dann noch im Netz folgende plakative Aussage, beruhend auf Computerberechnungen:
Das Endspiel KTL-KT ist in 65 Zügen matt. 8)
An anderer Stelle im Web konnte ich zudem nachlesen, dass auf Datenbankbasis eine Gewinn-Remis-Verteilung von 40% zu 60% ermittelt wurde. 2)
Ist die Annahme "grundsätzlich remis" also falsch? Nein, aber die Aussagen oben (wovon die erste etwas missverständlich formuliert ist), lassen sich erklären:
Mitte der 80er Jahre wurde eine Reihe von Untersuchungsergebnissen zu Fünfsteinern mit Hilfe von Datenbanken veröffentlicht (die ersten sicherlich früher). Ken Thompson – Pionier auf diesem Gebiet – hat bestimmte (Rand-)Stellungen untersucht, die in 59 Zügen gewonnen waren (was dem oben zitierten Matt in 65 entspricht, worauf mich Robert O. hinwies). Eine solche Stellung (insgesamt gibt es 28) ist z. B. W:Kd6,Te2,Lg4 vs. S:Th7,Ka8. Weiß gewinnt beginnend mit 1.Lf5.
Tabellen über berechnete Gewinne enthalten also i. d. R. Ergebnisse für bereits verlorene Ausgangsstellungen. Es lassen sich daraus keine allgemeingültigen Aussagen für das Endspiel selbst ableiten. Die 40% zu 60% hat mir Robert O. plausibel erklärt: "Die Aussage nach der Tablebase ist eine Nullaussage, weil sie nicht an praktischen Stellungen orientiert ist. Wenn man eine Datenbank durchsucht, wird man feststellen, dass die meisten Stellungen, die in der Praxis entstehen, zu Beginn remis sind (Nunn hat in seinem Buch
damals nur eine kleinere Datenbank untersucht und dort waren 72 von 74
zu Beginn remis, vgl. S.173 Nunn 6))."
Ein sehr interessantes Buch über die Anfänge des Computerschachs ist noch 1987 in der DDR veröffentlicht worden. 7) Autoren waren Prof. Dr. Christian Posthoff und Dr. Günter Reinemann (heute Präsident unseres Schachverbandes). Mitgewirkt haben u. a. auch Rainer Knaak und Sachsen-Anhalts ehemaliger Ministerpräsident Dr. Reinhard Höppner. Das Buch beschreibt u. a. sehr anschaulich verschiedene Konzepte zur Endspielanalyse mit Computern und ist auch heute noch lesenswert. Zu KTL-KT (und KTS-KT) findet sich Folgendes:
"Die erst kürzlich veröffentlichten Ergebnisse mit dieser Methode in diesen Endspielen haben für die Schachtheorie keine wesentlich neuen Erkenntnisse gebracht. Interessant und etwas unerwartet sind die Angaben zu den längsten Gewinnvarianten (59, 60).
Es bleibt abzuwarten, ob die FIDE, der Weltschachverband, diesen Untersuchungen Rechnung trägt und die 50-Züge-Remisregel verlängert. In einigen Endspielen (z. B. KSS-KB), für die der theoretische Gewinn durch diese Regel verhindert wird, gibt es bereits ein anderes Zügelimit."
7), S. 131
Womit wir bei Frage 2 wären. Aus heutiger Sicht ist die Antwort einfach: 50 Züge und Schluss.
In den 80er Jahren hat die FIDE aber tatsächlich reagiert – auch im Fall von Turm+Läufer vs. Turm. Zwischenzeitlich waren hier 100 Züge erlaubt. Maßgeblich dafür war seinerzeit der Artikel 10.9, den es inzwischen nicht mehr gibt. 1989 kam es zu einer Neuregelung und Reduzierung der Züge für KTL-KT auf 75. Aus diesem Anlass hat sich Rainer Knaak in "Schach" ausführlich mit dem Endspiel befasst 3). Er steigt ein in den Disput um die Ausnahmeregelung für bestimmte Endspiele oder eine generelle 50-Züge-Regel:
"Seit Computer für einige Endspiele Gewinne in mehr als 50 Zügen nachgewiesen haben, gibt es hier geteilte Meinungen. Die Praktiker wollen einfache Regeln und keine Ausnahme von der 50-Züge-Regel. Die Theoretiker bestehen darauf, dass man eine gewonnene Stellung auch gewinnen kann.
Die Regeländerung von 1984 * brachte eine Erhöhung auf 100 Züge für (1) K+S+S gegen K +B, (2) K+T+L gegen K+T, (3) K+T+B gegen K+L+B mit wBa2, sBa3 bzw. symmetrische. Das sind genau die Endspiele, für die schon Cheron in den 50er Jahren mehr als 50 Züge angab. Die Endspiele (1) und (3) sind so selten wie die blaue Mauritius. Ich kenne kein aktuelles Beispiel. Dass das Endspiel (2) mit in den Katalog kam, verblüfft viele, denn bekanntermaßen gilt es als remis (von einigen Randstellungen abgesehen). Doch eine dieser Ausnahmen ist erst in 59 Zügen gewonnen.
... Da eine genaue Katalogisierung der in über 50 Zügen gewonnenen Stellungen des Typs (2) nicht mit der Forderung nach einfachen Regeln zu vereinbaren war, wurden für das gesamte Endspiel K+T+L gegen K+T 100 Züge festgelegt. In der Praxis ergab das Folgendes. Da eine Randstellung mit Gewinnmöglichkeit in mehr als 50 Zügen ebenso selten wie die oben erwähnte Briefmarke ist, hatten die Verteidiger dieses etwas unangenehme Endspiel nun bis zu 100 Züge zu erdulden. Seeschlangen mit rund 200 Zügen waren in den letzten Jahren nicht selten."
Knaak beschreibt die damalige Regeländerung (75 Züge für Turm+Läufer vs. Turm) als Mittelweg:
"Die neue Fassung von 10.9 stellt offensichtlich einen Kompromiss dar. (3) wurde glatt gestrichen. (1) wurde vereinfacht ... Andererseits setzten sich die Mitglieder der Regelkommission, die für eine völlige Streichung von 10.9 stimmten, auch nicht durch.
"
Mittlerweile haben sie sich durchgesetzt, wie wir heute wissen. Das mag auch mit den immer neuen Computererkenntnissen zusammenhängen. Beispielsweise werden für das Endspiel T+S vs. S+S in einigen Fällen weit über 200 Züge für den Gewinn benötigt. Nebenbei fielen den Computeranalysen auch die Hängepartien zum Opfer.
Knaak zeigt in seinem Beitrag eine der Remismethoden:
Theoriestellung (Pattidee)
[Rainer Knaak] 3)
1.Kd5 Danach entsteht die einzige
Zugzwangstellung. Nun hat Schwarz aber nach
|
|
[1.Th7+ Weiss kann den schwarzen
Koenig zwar an den Rand treiben, muss aber nach 1...Kd8 die
zweite Reihe wieder raeumen.] |
1...Kd8 2.Kd6 mit Td7+! einen
Pattwitz, der den weissen Koenig wieder vertreibt. Diese Methode ist sehr einfach, wovon sich auch Grossmeister
Espig ueberzeugen konnte, als er bei der Schach-Olympiade dieses Endspiel gegen Ernst (Schweden) verteidigen
musste. Interessant, dass diese Methode von Endspielklassiker Cheron nicht erwaehnt wird. Die Einschaetzung
von Philidor, dass der Angriff den Koenig der Verteidigung immer an den Rand treiben kann, ist also sinngemaess
falsch.
1/2-1/2 |
Als weitere Remismethode gilt die folgende (als "Szen-Stellung" bekannt), die aber (zumindest für mich) schon schwerer zu fassen ist. Der Kern scheint in den Schachgeboten in Verbindung mit der Königsstellung im Springerabstand zu liegen.
Studie I. Szen
Eine weitere bekannte Remisstellung ist die von Cochrane, z. B. W:Ke5,Ta7,Le4 vs. Ke8,Te1 oder Te2
(geht aber am Rand nicht und aus manchen Ausgangsstellungen nicht).
Den praktischen Einsatz der Pattmethode demonstrierte Effi in folgender OL-Partie.
Ich war damals vor Ort und schrieb in meinem Bericht: "Ich möchte beim Stand von 3,5:3,5 nicht Turm + (evtl. fallender) Bauer gegen Turm + Läufer verteidigen müssen. Aber der russischen Schachschule traute ich das allemal zu und verzichtete darauf, Zeuge der Demonstration zu werden."
Immerhin habe ich wohl noch eine 10.2-Reklamation verpasst, wenn ich mich recht erinnere. Kein leichter Fall für einen Schiri, aber Effi hat wohl schon gezeigt, dass er es kann:
Vasilevich, Tatjana (2425) - Degtiarev, Jewgeni (2284)
OLOA 03/04 Aue-AE Magdeburg, 22.11.2003
[A07]
Im Gegensatz zu dieser Partie war die folgende nicht entscheidend für den Ausgang des Mannschaftskampfes. Deshalb ging es wohl auch nicht über die volle Distanz.
Katz, R. - Schuster, M.
LL0102 SK Dessau-Wolfen/Nord, 2002
Runde 2 [B10]
Bislang nur Remisbeispiele. Alles easy oder was? Keineswegs.
Um das Nunn-Zitat von Robert O. fortzuführen: " ... wird man feststellen, dass die meisten Stellungen, die in der Praxis entstehen, zu Beginn remis sind (Nunn hat in seinem Buch
damals nur eine kleinere Datenbank untersucht und dort waren 72 von 74
zu Beginn remis, vgl. S.173 Nunn 6)). Von
diesen wurden 28 gewonnen und sogar in 35 hatte die stärkere Seite im
Verlauf einmal eine Gewinnstellung!"
Nachfolgend einige Zitate von starken Praktikern:
"Dieses Endspiel wurde schon oft in der Turnierpraxis gespielt - bei guter Verteidigung kann Schwarz das Remis halten, aber in einer praktischen Partie mit eingeschränkter Bedenkzeit hat der Spieler mit T + L reelle Gewinnchancen."
Zoltan Ribli 5)
"The first moment to enter into a theoretical draw. White must have hoped to avoid such an endgame, in which Black's practical chances to win are similar with White's chances to draw, unless White would know very precise how to hold a draw.
From personal experience I can say that remembering concrete variations and positions in such endgames is a difficult task for anybody."
später zur entstandenen Randstellung:
"... However, under tournament circumstances with limited time and without clear knowledge of the position here I would say that Black's chances to win are more than 90%."
Dorian Rogozenko5)
"Leitet zum ersten Mal in eine theoretische Remisstellung über. Weiß muss gehofft haben, dieses Endspiel zu vermeiden. Die praktischen schwarzen Gewinnchancen sind ungefähr so hoch wie die weißen auf Remis, es sei denn, weiß kennt die Remismethoden sehr genau.
Aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich sagen, dass es für jeden schwer ist, sich in solchen Endspielen an konkrete Varianten und Stellungen zu erinnern."
später zur entstandenen Randstellung:
"... Unter Turnierbedingungen bei begrenzter Bedenkzeit und ohne klare Kenntniss dieser Stellung würde ich sagen, die schwarzen Gewinnchancen liegen bei über 90%."
Dorian Rogozenko5)
"This endgame is as difficult as it is beautiful."
Siegbert Tarrasch 2)
"Dieses Endspiel ist ebenso schwierig wie schön."
Siegbert Tarrasch 2)
(rückübersetzt; habe leider das Original nicht.)
"Now I have pushed the self destruction button.It is disgusting and worrysome to lose such an elementary ending like KTL-KT no matter if one is low on time etc..."
Suat Atalik zu seiner Partie gegen Shirov (s. u.)5)
"Jetzt drückte ich den Selbstzerstörungs-Knopf. Es ist ausgesprochen lästig ein solch elementares Endspiel wie KTL-KT zu verlieren, egal ob man nun in Zeitnot ist etc. ..."
Suat Atalik zu seiner Partie gegen Shirov (s. u.)5)
(im Original "disgusting" = "eklig, widerlich", aber da bin ich mir nicht sicher, ob es im Englischen gleich stark ist.)
"Reliable drawing methods are known, but the ending is harder to defend
in the tournament hall than in the quiet of the study."
John Nunn6)
"Zuverlässige Remismethoden sind bekannt, aber das Endspiel ist am Brett schwerer zu verteidigen als in ruhiger Heimanalyse."
John Nunn6)
Vor allem, wenn die Randstellungen bereits erreicht sind, wovon die folgenden Beispiele zeugen. Die bekannteste Gewinnstellung ist die von Philidor.
Studie Philidor, 1777
[(nach Awerbach)]1)
Hervorragendes Studienobjekt ist die nachfolgende Mikly-Partie. Es ist eines der Beispiele, bei denen die stärkere Seite ihr Ziel (Matt oder Turmgewinn) erreicht. Tragisch, dass nach all den Mühen am Ende offensichtlich die Zeit Mikly um den verdienten halben Punkt gebracht hat (sollte es anders sein und das Ergebnis falsch in der Datenbank stehen, wird sich Mikly sicher melden.)
Ich habe die Partie mit den Table-Bases auf Züge untersucht, die die Bewertung der Stellung ändern. Deshalb ist die ??-Bewertung auch rein technisch zu verstehen (ausgelassener Gewinn oder ausgelassenes Remis). Man muss dazu übrigens nicht großartig ausgerüstet sein (auch wenn es möglicherweise das Verfahren erleichtert). Robert O. wies mich auf die Möglichkeit der Online-Untersuchung hin.4)
Schild, Wilhelm (2235) - Klyszcz, Michael (2085)
DSB-Ramada-Cup-Bruehl (Bruehl), 03.11.2001
Runde 3 [A48]
Abschließend noch zwei Großmeisterbeispiele. Das Endspiel wird in der Tat (auch und gerade zwischen starken Spielern) relativ häufig entschieden. Weitere neuere Beispiele habe ich in eine pgn-Datei gepackt. Enthalten ist auch die von Knaak zitierte Espig-Partie. Lutz Espig musste damals mehr als 50 Züge verteidigen, ehe es ihm gelang die Türme zu tauschen. Man kann auch selbst über die Materialsuche das Endspiel filtern. In der Mega-Base 5) sind die Beispielpartien der pgn allesamt kommentiert.
Ehlvest, Jaan (2620) - Hellers, Ferdinand (2525)
Haninge (Haninge), 1990
Runde 11 [A38]
Shirov, Alexei (2735) - Atalik, Suat (2568)
BIH-chT (Jahorina), 22.06.2003
Runde 2 [C18]