72er Streiflichter

Doppelkopf - ja, ich nehme das Brainsche Unwort in den Mund. Denn der folgende Beitrag hat seinen Ursprung im schönen Kartenspiel. Wenn man nämlich bei Empor Erfurt 5er-Runden spielt und so gelegentlich eine Pause hat, schweift der Blick schon mal in alte Zeitungen und auf so manches lustige Foto.
So bin ich auch auf die folgende spektakuläre Partie gestoßen. Das Septemberheft von 1972 (da war ich noch gar nicht von dieser Welt ;-)) widmete sich nach dem obligatorischen politischen Leitartikel (beginnend mit "Auf dem VIII. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands nannte der Erste Sekretär des Zenralkomitees, Genosse Erich Honecker, die KPdSU die "erfahrenste und kampferprobteste Partei" und sagte ..." usw.) zunächst dem WM-Kampf Fischer - Spasski. Naturgemäß war das auch keine unpolitische Angelegenheit. Dann geht man zur Vormeisterschaft der DDR über, der letzten Stufe auf der Qualifikation zum Finale. Auch hier ein nichtschachlicher Beginn, der – je nach Auslegung – einen Hauch von (unfreiwilligem) Humor oder (unfreiwilliger?) ökologischer Systemkritik hat. Der Bericht lässt sich wie folgt an:
" 'Achtung Industrienebel!' Sollten diese Warnschilder an den Straßen von Krumpa, Sitz des VEB Mineralölwerkes Lützkendorf, bei den anreisenden Teilnehmern des diesjährigen Dreiviertelfinals Skepsis erweckt haben, so verflog diese schnell."
Vermutlich nicht so schnell wie der Nebel, wenn man sich an die Konsistenz desselbigen zu DDR-Zeiten erinnert. Beim schachlichen Rückblick ist interessant, dass man damals (per Hand ausgelost) einige Probleme beim Schweizer System eingestand (die Auslosung war eine langwierige Karteikärtchenprozedur – heute gar nicht mehr vorstellbar).
Schließlich hat mich noch interessiert, wie sich Analysen solch taktischer Partien wie der folgenden aus der heutigen Computerperspektive ausmachen. Und ich muss sagen: Hut ab, Herr Bade scheint sehr gründlich gewesen zu sein. Aus (sicher auch eingeschränkter) heutiger Sicht mit Rechnerunterstützung gibt es an den Kernaussagen und -varianten nicht viel zu rütteln. Eine kleine, aber hübsche Ergänzung ist dennoch dazugekommen.

Csulits, Anton - Bade, Uwe
DDR-Vormeisterschaft (Lützkendorf), 1972

[Uwe Bade, Riker] [D02]


Ausgangsstellung 1.d4 Sf6 2.Sf3 d5 3.g3 Lf5 4.Lg2 e6 5.O-O Le7 6.b3 O-O 7.Lb2 Te8 8.Sbd2 Sbd7 9.Sh4 Lf8 10.c4 c6 Bade: "Beide Partner haben die Eroeffnung sehr eigenwillig behandelt." Das weisse System gilt als harmlos (nein, Normi, das ist _kein_ Katalanisch), aber in der Folge bekommt die Partie eine ganz eigene Dramatik.
11.Sxf5 exf5 12.e3 Da5 13.a3 Se4 14.b4 Da6 15.Lh3 Sxd2 16.Dxd2 g6
[16...Dxc4 17.Lxf5 Sf6 18.Ld3 "mit positioneller Gewinnstellung fuer Weiss" (Bade)]
17.Tfc1! Bade: "Dami t sichert sich Weiss ein klares Uebergewicht am Damenfluegel, denn bei
17...Db6
[17...dxc4 18.a4! entwickeln die weissen Figuren ein harmonisches Zusammenspiel."]
18.cxd5 cxd5 19.Lg2 Sf6 20.Tc5! Tad8
[20...Lxc5 Bade: "Die sofortige Annahme des Qualitaetsopfers fuehrt zu schnellem Verlust."
21.dxc5 De6 22.Dd4 Kg7 23.Lxd5 De7 24.Lxb7]
21.Tac1 Lxc5 22.dxc5 Nach dem Qualitaetsopfer steht Weiss mit den Traumlaeufern natuerlich riesig. Nirgends ist Konkurrenz fuer den Lb2 in Sicht.
22...De6 23.Dd4 Kg7 24.Td1 g5 25.Lxd5 De7 26.Tc1
[26.g4! war eine Alternative, aber momentan darf Weiss fast alles spielen.
26...fxg4 27.Dxg4 h6 28.Df5 nebst e4-e5 oder auch h4. Schwarz ist vollstaendig gelaehmt.]
26...Kg6 27.e4 fxe4 28.Lxe4+ Dxe4
[28...Sxe4 29.Dg7+ Kf5 30.Dxh7+ Kg4
(30...Ke6 31.Dxe4+ Kd7 32.Dxb7+ Ke6 33.Te1+)
31.h3+ Kf3 32.Dh5+ g4 33.Dxg4#]
29.Dxf6+ Kh5 30.Dxf7+ Dg6 31.g4+ Liebaeugelt wohl mit dem folgenden Mattbild. Noch staerker war allerdings 31.D:b7, wie auch Bade angibt.
31...Kh4
[31...Kh6 32.Lg7+ Dxg7 33.Dh5#]
[31...Kxg4!?]
32.Dxb7 Te4 33.f3 Te2 34.Dc7! Bade: "Das sollte eigentlich der Schlusszug einer ueberlegen gefuehrten Partie sein. Aber inzwischen hatte Weiss nur noch eine Minute Bedenkzeit, und Schwarz kann dem scheinbar undeckbaren Matt entrinnen."
34...Td1+ Die Partie war ja schon bislang wahrlich nicht uninteressant, aber was jetzt folgt, ist wirklich ungewoehnlich. Zunaechst opfert Schwarz beide Tuerme, um dem Matt zu entrinnen.
35.Txd1 Tg2+ 36.Kh1
[36.Kxg2? Dc2+ 37.Kf1 Dxd1+ 38.Kf2 Dd2+ mit Dauerschach.]
36...Dc2 37.Dd6? Bade: "Dieser natuerliche Zug, den Td1 deckend und Dh6 matt drohend, verliert!" Er gibt stattdessen 37.Tc1 an, was auch tatsaechlich gewinnt. Viel schoener geht das allerdings mit dem freihaendigen 37.Td2!, und es ist sofort aus.
[37.Td2!+ -



]
37...h5 Bade: "Einzige, aber voellig ausreichende Riposte."
38.Le5 Bade: "Hartnaeckiger war
[38.Td2 Dxd2 39.Dxd2 Txd2 40.Le5 hxg4 41.fxg4 Kxg4 wenngleich Schwarz dank des abgeschnittenen weissen Koenigs ueber gute Gewinnchancen verfuegt." Dieses Endspiel waere wiederum eine eigene Analyse wert.]
[38.gxh5 Kh3! 39.De6+ g4- + (Bade)]
[38.Ld4 Kh3 39.Lg1 De2- +]
38...Kh3 Das ist der Hammer! Der schwarz Koenig stand praktisch seit 20 Zuegen auf Matt. Jetzt knuepft er das Mattnetz fuer sein Gegenueber. Aus und vorbei!
39.c6 Txh2+


0-1

Die Gastgeber hatten damals übrigens Grund zur Zufriedenheit. Ihre Starter H. Packroff und H. Schmidt erreichten einen der zur Qualifikation nötigen Plätze 1 bis 4 in Gruppe A bzw. B. Hermann, der erst kürzlich bei der Senioren-WM mit einem sehr starken Resultat auftrumpfte und bei Naumburg nach wie vor ein sicheres vorderes Oberligabrett abgibt, konnte seine Gruppe sogar recht souverän gewinnen. Zu den weiteren Qualifizierten zählten Hermann Brameyer, Klaus Müller, Peter Hesse, Olaf Thal, Joachim Brüggemann (heute Präsident des Thüringer Landesverbandes) und Wolfram Heinig. Im geschlagenen Feld neben den oben Genannten Csulits und Bade u. a. auch Werner Breustedt, Uwe Tredup (beide SG '67), Detlef Neukirch, Harald Darius und der junge Thomas Pähtz.

Böhnisch, Manfred - Packroff, Hermann
DDR-Vormeisterschaft (Lützkendorf), 1972

[C49]


Ausgangsstellung 19...Sxe4 20.Lxe7 Sxg3+ 21.Kh2 Sxf1+ 22.Kh1 Txe7 23.d4 d5 24.Dd3 Tef7 25.Te1 c6 26.Te5 Lc7 27.Tg5 Te7 28.h4 Te1 29.Te5 Lxe5

0-1

Weiterer Bestandteil des Heftes war ein Bericht vom Dreiviertelfinale der Jugend. Auch hier bekannte Namen mit Gerhard Köhler, Peter Babrikowski, Lutz Deuter, Gunter Sandner, Jürgen Lisek, Wolfgang und Peter Gattig (Wittenberg), Michael Becker, Thomas Bundrock, Rainer Erler u. a.
Vom "Pichel" ist man heute nicht mehr gewohnt, dass er zerlegt wird, aber vor über 30 Jahren kam es wohl gelegentlich vor:

Müller, Werner - Pichler, Manfred
Dreiviertelfinale Jugend (Potsdam), 1972

[C97]


Ausgangsstellung 25.Sgh6+ gxh6 26.Dg4+ Kh8 27.Tg7

1-0

Erstellt mit PGNtoJS