8 Blickwinkel

Karjakin moniert Ähnlich wie im gleichnamigen Film ist beim Kandidatenturnier im Herzen Berlins vieles eine Frage der Perspektive. Aus Sicht der Spieler gab es bereits einige Kritik. "I don't like anything", sagte Karjakin auf der Pressekonferenz zur 1. Runde. Am Samstag erneut nach seinen Eindrücken befragt, bekräftigte er seine Kritik am Hotel ("der Weltelite nicht würdig") und am Spielsaal (Lärmpegel und in Runde 12 ließ wohl versehentlich nach ein paar Zügen ein Zuschauer von oben eine Wasserflasche auf die Spielfläche segeln). Grischuk monierte vor allem, dass es für die Spieler nur eine Toilette gibt, deren Nutzung offenbar nicht auf die Akteure beschränkt ist ("Waiting to use the (occupied) toilet in time trouble, when after a couple of minutes some random person drops out ..." - schüttelt den Kopf). Ich habe übrigens mal das Hotel (das nur wenige Meter vom Spielsaal entfernt gelegen ist) im Netz gecheckt: Es hat in der Tat nur 3 Sterne, aber sehr gute Bewertungen und gilt als Geheimtipp.

Harry, Reyk Auch die Journalisten klagen über die Arbeitsbedingungen. Harry, der derzeit nur für die KARL-Rubrik "Was war" Stimmen und Bilder sammelt und vorerst kein gesondertes Heft über das Kandidatenturnier plant ("Vielleicht überlege ich es mir noch."), ist ebenfalls nicht begeistert. Bei den Pressekonferenzen sei die erste Reihe nicht für die Journalisten reserviert und daher könne man nur schwer gute Bilder bekommen. Wenig später habe ich bei So und Mamedyarov einen Erste-Reihe-Platz ergattert, während Harry zu spät kommt und resigniert den Kopf schüttelt. Ich überlege kurz, das Feld zu räumen, rede mir dann aber ein, dass das nur für Unruhe sorgen würde ... Für Fiona (Steil-Antoni) mache ich am Schluss aber doch Platz ;-)
Wesley So ist auch im Anschluss sehr umgänglich und aufgeschlossen für eine Fotosession mit Franzi sowie den Dresdnern Konstantin Urban und Roven Vogel.

Wesley fannah mit Konstantin und Franzi Die Journalisten- und Spielersicht sind zweifellos wichtig und letzere sollte natürlich maßgebend sein. Hier soll es aber vor allem um die Sicht der Zuschauer gehen. In unserem Fall waren das Franzi, Johanna, Snoopy, Joey und der Autor.
Zuschauer ist natürlich nicht gleich Zuschauer. Je nach Geldbeutel und Vernetzung wird unterteilt in "Weiß", "Silber" und "Gold". Sibylle Heyme, die am Eingang die farbigen Bändchen verteilt, zuckt schon vorausschauend mit den Achseln. Sie könne uns leider nur die weißen geben (die unserem Ticket entsprechen). Vermutlich wurde sie in den Tagen zuvor schon belagert ...

Das Berliner Kühlhaus (tatsächlich ein ehemaliger Schlachthof) versprüht mit teils unverputzten Wänden den morbiden Charme a la Straßenbahndepot Lichthaus-Kino in Weimar (wer es kennt). Das muss keineswegs abstoßend sein. Ganz unten agieren die Spieler – die Paarungen sind in einem Viereck angeordnet. In den nach oben offenen Etagen folgen auf der II. die Weißen, auf der III. die Silbernen und ganz oben in der V. ist die Vip-Lounge für die Goldenen. Schön hierarchisch aufgebaut.

Weiße Sicht Silberne Sicht Volle Balustraden

Die Aussicht von der silbernen dritten Etage wirkt auf den ersten Blick weniger vorteilhaft als die von der II., da man doch weiter weg ist. Ein Opernglas, wie Ulrich Stock hier etwas übertreibt, benötigt man dennoch nicht. Und der Winkel ist tatsächlich entscheidend besser, da man drei Partien auf einmal verfolgen kann und es insgesamt nicht so voll ist an der Balustrade. Auch gibt es hier Sessel und Bildschirme, die alle Partien zeigen. Dies wird in der II. (Fußvolk-)Etage schmerzlich vermisst. Woher ich weiß, wie die silberne Etage aussieht, obwohl ich nur ein weißes Ticket besaß? Nun, mit fortschreitender Spieldauer ließen die anfangs peniblen Kontrollen nach ...

Jugend blitzt: Jonas In der IV. Etage ist der große Sammel- und Treffpunkt für die nicht-goldene Kaste. Das "Schachcafé" ursprünglich wohl aus zwei Automaten bestehend hat sein Angebot um Obst und Nicht-Automaten-Kaffee erweitert. Aber wir waren ja vorgewarnt. Man kann hier den deutschen Kommentatoren lauschen (an dem Tag Elisabeth Pähtz und Ilja Zaragatski), plauschen und wie erwähnt die Pressekonferenzen hautnah verfolgen.
Man kann aber auch ausgiebig blitzen und das Kandidatengeschehen weitgehend ignorieren. Was Jonas auch tut ;-) Der deutsche Kader ist hier und hat nebenbei einen Lehrgang, bei dem u. a. Alexej Shirov wertvolles Einzeltraining gibt.

Kurthi & Schubi Überhaupt Klassentreffen: Auf dem Hinweg hatte ich noch vom Konzertbesuch mit Kurthi in Berlin vor einigen Jahren berichtet. Natürlich läuft er mir dann gleich in der IV. Etage mit Schubi über den Weg (Stichl hat keine Karte mehr bekommen :-(). Kurthi erinnert mich gleich daran, dass Gräfenhainichen im Gegensatz zu Löberitz die kommende Verbandsliga-Saison schon planen kann. Und hat sich ein Silber-Ticket geleistet. Er teilt meine Meinung, dass das Gesamtkonzept aus Zuschauersicht so schlecht nicht ist.

Ulf Man trifft viele der Erfurter, die noch vor Wochenfrist etwas weiter weg vom Geschehen beim ESK-Public-Viewing weilten.
Ulf ist mit drei anderen Hamburgern für ein komplettes Berlin-Wochenende angereist und säuberlich krawattiert wie eh und je. Den Coach hat er allerdings nicht im Gepäck.
Matthew Sadler ist ebenso interessiert am Geschehen wie einige Großmeisterkollegen, die vor Ort weilen. Wir haben einen kurzen Plausch über seine New-in-Chess-Kolumne und die anstehenden Rezensionen. Matthew ist genauso umgänglich und natürlich, wie er in Videos und Artikeln wirkt.

Bei den Partien wird einiges geboten – wie schon über das gesamte Turnier hinweg. Es ist phantastisch, mit welchem Einsatz und Kampfgeist in nahezu allen Partien agiert wird. Man nehme dazu im Vergleich die Top-Turniere der Vergangenheit (z. B. 60er bis 80er Jahre ...).
Alexander Grischuk und Ding Liren liefern sich eine wilde Zeitnotschlacht. Das Mattmotiv Sd8! sehen z. T. auch die "unbewaffneten" Zuschauer. Aber die haben eben keinen Druck und keine Zeitnot.

Matthew Sadler und Begleitung Diese Zeitnotphase ist so spannend, dass wir den Anfang der Pressekonferenz mit Caruana und Kramnik verpassen, die sich inzwischen Remis getrennt haben. Die Pressekonferenz gibt das übliche Bild: Big Vlad versprüht Optimismus und Fabi belächelt einige seiner Vorschläge. Wie schon nach ihrer ersten Partie in einigen Varianten durchaus zu Unrecht. Da Kramnik-Bashing en vogue ist: Ja, er wirkt z. T. übermotiviert und überoptimistisch. Aber die Spötter neigen ebenso zu Übertreibungen. So ist das Damenopfer-Konzept gegen Ding mit dem korrekten Tc3 für die Maschinen durchaus nicht auf die Schnelle zu überschauen. Aber langes Rechnen verträgt sich nicht mit der Halbwertzeit von Internet-Kommentaren.

Nachdem die Zeitnotphase und die ersten beiden Pressekonferenzen vorüber sind, gibt es etwas Leerlauf und somit sogar Gelegenheit für ein bisschen Improvisations-Theater unsererseits. Die Orga-Crew – hauptsächlich spanisch- und russisch-sprachig – überlässt uns unverhoffterweise die große Bühne für eine Fake-Pressekonferenz. Dabei mimt Franzi zwangsläufig Anastasia Karlovich, während die Rollen von Snoopy, Joey und mir frei nach Fantasie zuzuordnen sind ;-)

Pressekonferenz-Impro Findet reges Interesse Pressekonferenz-Impro (2)
Weiße Sicht Kramnik, Caruana Ding, Grischuk

Unterdessen ziehen sich die anderen beiden Partien in die 6. oder gar 7. Stunde, ohne langweilig zu werden. Sergej Karjakin setzt seine Aufholjagd gegen den armen Levon Aronian fort. Letzterer fehlt zwar (anders als Kramnik nach der Karjakin-Partie) nicht bei der Pressekonferenz, aber die Anwesenheitspflicht kann man hier schon hinterfragen. Levon bringt (verständlicherweise) kein Wort heraus.

Judit Polgar kommentiert Für die letzte Stunde lassen die Kontrollen weiter nach und werden die Kasten zunehmend durchmischt. Ich verfolge Judit Polgars Kommentare in der Gold-Zone. Judit ist einfach phantastisch als Kommentatorin: absolut natürlich, immer spannend und einfühlsam. Und sie sieht (ohne Rechner natürlich) enorm schnell und viel! Nicht nur bedingt durch den Vorteil der parallel laufenden Live-Bilder: Judit kann es in dieser Hinsicht auch mit Peter Svidler aufnehmen. Svidlers Recap-Videos sind natürlich nach wie vor hochklassig und unverzichtbar, aber die Live-Kommentare (nicht zuletzt durch Gusti motiviert) gelegentlich ein wenig engine-lastig.
Die offizielle Kommentierung ist andererseits recht parteiisch – u. a. aufgrund des Mitwirkens von Lawrence Trent – aber das war bereits beim WM-Match der Fall.

Rotes Sachsen-Trio: Konstantin, Franzi, Roven Nach mehr als 7 Stunden ist auch Ding - Grischuk beendet und die letzte Pressekonferenz steht an. Grischuk ist hier mit seinem lakonischen Humor der Publikumsliebling und er weiß es. Ganz in Starmanier lässt er sich Zeit, kommt als letzter und gibt auf dem Weg noch Autogramme. Der Reporter neben mir flucht: "Come on, afterwards, do it afterwards!", murmelt er vor sich hin. Auch diesmal hat der Russe die Lacher auf seiner Seite, während Ding förmlich in sich zusammensackt, als er des einfachen Gewinns Sd8 gewahr wird.

Ich muss sagen, dass ich keine großen Erwartungen an den Vor-Ort-Besuch hatte. Zu negativ der Tenor im Vorfeld und würde man nicht zu Hause mit Judit während der gesamten Spieldauer bequemer und mehr sehen?
Demgegenüber verging die Zeit in Berlin jedoch wie im Flug und die Live-Atmosphäre war tatsächlich etwas Besonderes. Zumal sich die Spieler sehr publikumsnah gaben und man doch viele bekannte Gesichter sah.
Für eine Werbung ist es jetzt zu spät, aber sollte mal wieder ein solches Event in Deutschland anstehen: Schaut es euch aus der Nähe an!

Reyk

Logo Synchron Snoopy & Johanna

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