Interview mit Mark Gluhovsky (Teil I)

Herausgeber der russischen 'Schachrevue' (Shahmatnoe obozrenie)

geführt im Sachový Vlak (Schach-Zug) am 17. Oktober 2011 zwischen Bratislava und Krakau (in der Pause nach Runde 9 des Zugturniers)

MG (Mark Gluhovsky)
MK (Michael Klyszcz)
RS (Reyk Schäfer)
VC (Valeria Chugunova)

Mark in "seinem" Abteil MK: Hallo Mark, vielen Dank fürs Kommen! Ich darf uns zunächst einmal vorstellen: Wir, Reyk und ich, sind Schachspieler eines deutschen Schachklubs aus einem kleinen Dorf namens Löberitz. Wir pflegen eine eigene Klub-Homepage. Dort berichten wir über unsere Aktivitäten und natürlich vor allem über Schach. Begleitet werden wir von unserer Freundin Valeria aus Moskau, die sich dieser Reise angeschlossen hat. Und Sie veröffentlichen ein berühmtes russisches Schachmagazin, richtig?
MG: Genau, das Magazin heißt "Shahmatnoe obozrenie" (= "Schachrevue"). Momentan ist es die einzige Schachzeitung in Russland.

MK: Tatsächlich? Es gibt nur dieses eine Magazin?
MG: Das einzige, das letzte ... das Beste (lacht)!

Abfahrt in Bratislava RS: Wie lange existiert es schon?
MG: Mehr als 40 Jahre! Für mich aber ist es seit nunmehr vielen Jahren ein höchst interessanter Beruf und wichtiger Teil meines Lebens. Auf diese Weise kann ich interessanten Ereignissen wie diesem hier beiwohnen.
In Russland spielen zwar eine Menge Leute Schach im Zug, aber diese Veranstaltung ist dennoch etwas ganz Besonderes.

Pavel blitzt MK: Sie meinen, die Leute spielen im Zug zum Zeitvertreib wie vielleicht sonst mal am Strand?
MG: Ja, genau. Im Vergleich zu europäischen Entfernungen kann es in Russland durchaus mal 2 bis 4 Tage dauern, bis man sein Ziel erreicht. Also hatten wir normalerweise in jedem Waggon eines jeden Zuges immer Schachspiele zur Verfügung. Oder wir konnten den Zugbegleiter um ein Schachspiel bitten. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, weil ich als Student immer viel unterwegs war.
Als ich einmal nach Aserbaidschan reiste, forderte mich ein junger Mann zu einer Partie heraus. Ich willigte ein, aber es stand im gesamten Zug kein Schachspiel zur Verfügung. Also schlug er eine Blindpartie vor! Ich war einverstanden und wir spielten eine sehr interessante Partie. Mit dem 30. Zug gab ich auf, aber aufgrund dieser Partie wurden wir für viele Jahre gute Freunde.

Okay, bei solchen Geschichten geht es lediglich darum, Zeit totzuschlagen. Hier jedoch sind wir gerade in einem ganz speziellen Zug und nehmen an einem richtigen Turnier teil. Das ist natürlich etwas anderes.

Prager Bahnhof Für so etwas muss man sich mit der Bahngesellschaft arrangieren, muss sich mit Schachspielern oder Funktionären verständigen; das ist alles nicht ganz so einfach. Aber durch den Einsatz von Pavel Matocha konnte diese Idee schließlich verwirklicht werden. Als Alexander Bakh seinerzeit im Jahre 2002 das erste Aeroflot Open organisierte, da stieß auch er in Neuland vor. Jetzt feiern wir bereits die 10. Auflage.

Sollte dieser Schach-Zug noch mal auf Tour gehen, dann wäre ich sehr gerne wieder dabei und zwar am liebsten zusammen mit meiner ganzen Familie. Meine beiden Söhne spielen auch sonst bei offenen Turnieren. Auf diese Weise könnten wir gemeinsam 5 Städte in 5 Tagen mit 4 verschiedenen Währungen genießen. Aber vielleicht hat eines dieser Länder nächstes Mal ebenfalls bereits den Euro - das wäre dann einfacher (lacht). Oder wir fahren eine andere Route.

MK: Na ja, in einem Schach-Zug von Lissabon nach Wladiwostok könnte man sicher etliche Runden spielen.
MG: Ja klar, darin könnte man sogar einen kompletten Kandidaten-Zyklus durchführen (alle lachen)!

MK: Schach spielte immer eine führende Rolle im täglichen und öffentlichen Leben Russlands ...
MG: Nein!

Mark gegen den späteren Turniersieger Richard Biolek MK: Hat sich das geändert?
MG: Ja. Und ich glaube, es hat sich für immer geändert. Mir gefällt, was Grischuk dazu mal sagte: 'In der Sowjetunion war Schach unverdientermaßen populär und nun ist es unverdientermaßen unpopulär.' Also versuchen wir einen Mittelweg zu finden. Und das ist auch in Ordnung so - es ist ja letztlich nur ein Spiel.

Man muss sich einfach mal vorstellen, was da gerade abläuft: Jeden Tag, jede Stunde versuchen tausende von Computern neue Varianten und neue Ideen zu finden! So wird Schach auf hohem Niveau leider zunehmend langweiliger. Da muss man heutzutage nicht nur jede Menge Varianten prüfen und analysieren, sondern sich auch sonst noch eine Vielzahl von Informationen merken. Heute kommt ein Großmeister nicht nach einem Spaziergang oder einer sportlichen Betätigung zu seiner Partie, sondern nach vielen Stunden Vorbereitungsarbeit am Computer. Doch manche Spieler haben einfach ein schlechtes Gedächtnis und scheitern dann trotzdem.

Festung Bratislava MK: Sie meinen, der menschliche Faktor gewinnt bei Schachpartien zunehmend an Bedeutung. Wer zuerst etwas vergisst, der verliert dann auch die Partie?
MG: Ja, ganz sicher. Andererseits sind die Bedingungen für hochklassiges Schach zuletzt immer besser geworden. Zu Zeiten von Kasparov und Karpov gab es nur diese beiden und vielleicht zwei bis drei weitere Großmeister, die gutes Geld verdienten. Doch heute genügt es unter den Top 20 zu sein, um einem lukrativen Beruf unter vorzüglichen Bedingungen nachzugehen.
Damals gab es außerdem eigentlich nur drei wirklich hochrangige Turniere: Dortmund, Wijk aan Zee und Linares. Wurdest Du zu diesen nicht eingeladen, dann war es sehr schwierig, den Beruf des Schachspielers für ein gutes Einkommen auszuüben. Heute jedoch haben wir mindestens 10 Turniere, bei denen Großmeister mit einer Elo von über 2700 wie z.B. Caruana, Nepomniachtchi und andere teilnehmen können. Es gibt jetzt viele Turniere mit gehobenen Konditionen. Daher bin ich mir sicher, dass aus dieser Sicht derzeit alles zum Besten steht. Aber wir sollten vielleicht dennoch ein paar Kleinigkeiten ändern, um das Auswendiglernen tausender Varianten einzudämmen. Das zielt natürlich nicht auf Amateure unseres Niveaus, denn wir können schließlich jederzeit auch fast ohne Gedächtnis spielen (lacht).

Unterwegs RS: Was halten Sie in diesem Zusammenhang von der von Kramnik vorgeschlagenen Regeländerung, wonach die Rochade während der ersten zehn Züge verboten wäre?
MG: Na ja, Vorschläge von Kramnik sind üblicherweise immer gut durchdacht. So auch in diesem Fall. Aber vielleicht ändert das noch nicht genug. Interessant finde ich auch einen anderen Vorschlag, der das Ergebnis eines Patts ändert, also z.B. 0,75 - 0,25 Punkte dafür vergeben will. Das hätte eine direkte und nachhaltige Auswirkung auf viele Endspieltypen wie praktisch alle Bauern- und etliche Turmendspiele und folglich auf eine Menge Theorie.
Eine andere gute Idee sind natürlich auch die Sofia-Regeln. Auch wenn man theoretisch eine Partie einfach wiederholen könnte, so lässt sich die beabsichtigte Wirkung doch kaum vermeiden. Daher glaube ich, dass in vielleicht nur fünf Jahren die Sofia-Regeln gängige Praxis bei Turnieren sein werden. Dazu eine kleine Anekdote: In einem der russischen Super Finals kam es zum Aufeinandertreffen zwischen Svidler und Dreev. Es war das erste Super Final unter Sofia-Regeln und Peter gewann eine interessante Partie. Aus der Eröffnung war er allerdings mit einem Minusbauern gekommen. Als ich ihn nach der Partie befragte, meinte er: "Ohne die Sofia-Regeln hätte ich angesichts des Minusbauern nach 18 Zügen Remis geboten. Dreev hätte natürlich akzeptiert, da er ein solches Angebot niemals ablehnt. Dann wäre die Partie einfach so nach 18 Zügen zu Ende gewesen." Also ja, ich denke, die Sofia-Regeln helfen dabei, Schach interessanter zu machen.

Unser Spielsaal RS: Ihr habt in Russland sehr hohe Standards für Live-Übertragungen von Partien. Ihr bietet dabei nicht nur Live-Kommentierungen, sondern auch HD-Videoübertragungen der Partien sowie Pressekonferenzen. Das hat die Berichterstattung im Internet auf ein neues Niveau gehoben! Ich habe die Berichterstattung über die Kandidatenkämpfe, das Tal-Memorial und das Super Final sehr genossen.
MG: Vielen Dank. Für das kommende Tal-Memorial im November, welches nebenbei bemerkt eines der stärksten Turniere aller Zeiten sein wird, werden wir noch mal ein paar Dinge verändern und es noch besser machen. Wenn mehrere tausend Leute das Turnier im Internet verfolgen, dann ist das selbstverständlich auch sehr gut für die Popularität von Schach. Bislang konnten wir dazu leider keine Live-Kommentare auf Englisch anbieten - auch das muss sich ändern. Wir betrachten das diesjährige Tal-Memorial als Generalprobe für die Weltmeisterschaft. Bis dahin sollen Kommentare auf Englisch gesichert sein und zwar durch Muttersprachler. Die Verhandlungen laufen noch. Aber ankündigen kann ich bereits, dass diesmal Emil Sutovsky das Tal-Memorial auf Russisch kommentieren wird.
Das Turnier wird außerordentlich stark besetzt sein: Anand, Carlsen, Kramnik, Aronian, Ivanchuk, Svidler, Karjakin, Gelfand, Nakamura und Nepomniachtchi. Damit haben wir den Weltmeister, seinen Herausforderer, den Weltcupsieger usw.

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Bildquelle nr. 5 (Gluhovsky - Biolek): Prague Chess Society
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